Warum greift die offizielle Schweiz die UNRWA an?
Riccardo Bocco, emeritierter Professor, Graduate Institute Geneva
Die jüngsten Stellungnahmen der "offiziellen" Schweiz – insbesondere von Parlamentariern
der Liberalen und der SVP – zur UNRWA geben Anlass zur Sorge. Aufgrund welcher
Informationsquellen treffen unsere Nationalräte ihre Entscheidungen? Stehen sie unter dem
Einfluss der israelischen Propaganda von Organisationen wie UN Watch oder NGO Monitor?
Nach fast zwölf Monaten Krieg in Gaza hat die "offizielle" Schweiz Israel noch immer nicht an
seine Pflichten in Bezug auf das humanitäre Völkerrecht und die Genfer Konventionen
erinnert, deren Depositärstaat die Eidgenossenschaft ist. Und der Aufruf, die UNRWA zu
ersetzen, ist schockierend.
Ein Rückblick ist notwendig. Das Mandat der Agentur, die im Dezember 1949 von der
Generalversammlung der Vereinten Nationen im Anschluss an die Resolution 194 von 1948
über das Recht auf Rückkehr und/oder Entschädigung für palästinensische Flüchtlinge
gegründet wurde, umfasste humanitäre Hilfe in Cisjordanien, Gaza, Jordanien, dem Libanon
und Syrien, wo die meisten Opfer des Krieges von 1948 Zuflucht gefunden hatten.
Ursprünglich hofften die westlichen Staaten, die Umsiedlung der Flüchtlinge durch die
Durchführung von Projekten zur Förderung ihrer wirtschaftlichen Integration in den
Aufnahmeländern zu fördern. Nach dem Krieg von 1948 annektierte Jordanien Cisjordanien
und gewährte den palästinensischen Flüchtlingen die Staatsbürgerschaft. Gaza wurde unter
ägyptische Militärverwaltung gestellt. Flüchtlinge im Libanon und in Syrien erhielten
Bescheinigungen, die ihren Status belegten.
Die Flüchtlingsvertreter lehnten die von der UNRWA unterstützten Umsiedlungspläne jedoch
bald ab. Ab 1958 musste sich die Agentur auf vier Hauptaktivitäten konzentrieren: Bildung,
Gesundheit, soziale Dienste und Infrastruktur. Bis heute ist die Verteilung von Budget und
Mitarbeitern gleichgeblieben: 67% für Bildung, 25% für Gesundheit und der Rest für soziale
Dienste und Infrastruktur. Was das Personal der Agentur betrifft, so sind nur 1% der derzeit
30.000 Beschäftigten internationale Staatsangehörige in Führungspositionen. Der Rest sind
palästinensische Flüchtlinge oder arabische Staatsangehörige. Das UNRWA unterstützt
heute rund 6 Millionen Flüchtlinge. Seine Mission sollte enden, sobald der Konflikt eine
Lösung gefunden hätte. Die UNRWA ist von den Geldern internationaler Geber abhängig
und hat einen "vorübergehenden" Status – seit 75 Jahren.
UNRWA und das "Recht auf Rückkehr"
Die Gründung der UNRWA widerspricht einem der Gründungsslogans Israels: "Ein Land
ohne Volk für ein Volk ohne Land", denn während des Krieges von 1948 lebten 750.000
Menschen in den 78% des Mandatsgebiets Palästina, die von Israel besetzt wurden. Die
derzeitige israelische Regierung verbreitet jedoch weiterhin den Mythos, dass die
Palästinenser aus eigenem Willen gegangen sind. Dieser Mythos wurde von den
israelischen "neuen Historikern" desavouiert, die anhand der Archive des
Verteidigungsministeriums zeigten, wie die Palästinenser 1948 gezwungen wurden zu
gehen, vertrieben durch Übergriffe verschiedener jüdischer Milizen bis zu einem Punkt, wo
man von "ethnischer Säuberung" sprechen kann.
Im Osloer Abkommen von 1993 stimmte Arafat zu, die Resolution 194 (Recht auf Rückkehr)
aus den Rechtsgrundlagen des Abkommens auszuschließen und diese auf die Resolution
242 von 1967 über den Rückzug der israelischen Truppen aus den besetzten Gebieten zu
beschränken (was den Streit innerhalb der palästinensischen Nationalbewegung gegen die
Fatah schürte, ein Streit, der bis heute andauert).
Dieses "Recht auf Rückkehr" wurde kürzlich in einem Buch kritisiert, das in der jüdischen
Gemeinschaft für Gesprächsstoff sorgte: The War of Return, das 2007 vom Journalisten Adi
Schwartz und der Politikerin Einat Wilf gemeinsam verfasst wurde. Ihre These ist, dass die
westliche Nachsicht mit dem palästinensischen Traum vom Recht auf Rückkehr dazu
beigetragen hat, das Problem aufrechtzuerhalten und den Friedensprozess zum Entgleisen
zu bringen. Sie schlagen daher die Auflösung der UNRWA vor.
Der Einfluss von Ignazio Cassis
Die Schweiz hatte bis zur Ernennung von Ignazio Cassis zum Außenminister im Jahr 2017
immer eine klare Position in Bezug auf die Rechte der Palästinenser. Im Mai 2018
überraschte der neue Bundesrat und ehemalige Vorsitzende der Parlamentarischen Gruppe
Schweiz-Israel mit der Aussage, dass Flüchtlinge und die UNO-Agentur nun Teil des
Problems und nicht der Lösung seien.
Wie ist die jüngste Aussetzung bzw. Streichung der Schweizer Finanzmittel für die UNRWA
zu interpretieren? Zwei Berichte, die die israelischen Anschuldigungen untersuchten, kamen
zu dem Schluss, dass einige UNRWA-Mitarbeiter an den Kriegsverbrechen vom 7. Oktober
2023 beteiligt waren, was die Mehrheit der Geberländer jedoch nicht davon abhielt, ihr
Engagement fortzusetzen. Auch die Debatte darüber, ob die UNRWA durch andere
Organisationen ersetzt oder aufgelöst werden soll, scheint falsch gestellt, da dies nur durch
ein Mehrheitsvotum in der Generalversammlung der Vereinten Nationen geschehen kann.
Und wie soll man sich konkret vorstellen, die 13.000 Mitarbeiter der Agentur in Gaza zu
ersetzen?
Alle hier aufgeführten Fakten sind in zahlreichen Publikationen und Websites zu finden, die
auch unseren politischen Entscheidungsträgern zugänglich sind….. Es ist wirklich
erstaunlich, dass die offizielle Schweiz nicht besser informiert ist.